Brasilien

Reise ins Herz Amazoniens. Mit dem Boot auf dem Rio Negro

 

 

5.20 Uhr. Jemand klopft an die Kabinentür. Da heißt es aufstehen, Katzenwäsche und rein in Shorts, T-Shirt und Sandalen. Etwa 10 Minuten später sitze ich mit meinen 16 Mitreisenden im Salon und schlürfe den ersten Kaffee. Maniok-Porridge hat Köchin Vilma auch für uns zubereitet, aber den überlasse ich zu dieser frühen Stunde großzügig den Anderen. Sie kommen aus Deutschland und aus Österreich, aus Belgien, Portugal, Schweden und England. Bordsprache ist Englisch.

 

5.50 Uhr. Wir steigen in eines der beiden Beiboote, und während hinter einer schmalen Flussinsel die Sonne aufgeht, fahren wir unter dem Gekrächze eines Papageienschwarms unserem ersten Abenteuer entgegen. 

 

 

 

Unser Schiff

 

Gestern haben wir uns in Manaus auf der Motorjacht "Tucano I" eingeschifft, um den Rio Negro flussaufwärts zu fahren, über 300 Kilometer nach Nordwesten bis zum Rio Jaueperi.

 

24 Meter ist das Schiff lang und hat eine maximale Breite von 6,7 Metern. Mit seinen drei Decks, den 9 Kabinen und einem "Salon" wird es für die nächsten 7 Tage und 6 Nächte unser Zuhause sein.

 

Im Stil der Amazonas-Dampfschiffe des späten 19. Jahrhunderts komplett aus Hartholz gebaut (Stapellauf 1997), hat die Tucano einen Tiefgang von nur 1,50 Metern und bietet damit die Möglichkeit, weiter als jedes andere Schiff in die Wildnis vorzudringen und kleine Flüsse zu erforschen.  

Dunkelbraun lackierte Täfelung, poliertes Messing sowie gerahmte botanische Prints und antike Karten verleihen dem Schiff den eleganten und luxuriösen Touch längst vergangener Zeiten. Trotzdem mangelt es nicht an modernem Komfort: unsere samt Bad etwas über 9m² große Kabine besitzt eine Klimaanlage, die sie bei 27 Grad Celsius zu einem angenehm kühlen Ort macht, wenn man der Sonne und den 37 Grad Außentemperatur entfliehen will. Alternativ sind die vier großen Fenster zu öffnen, um den Fahrtwind hereinzulassen und den Regenwald hören und riechen zu können.

 

Wir haben kein Radio, kein TV und so gut wie kein Handynetz. Aber ganz gleich, wo sich das Schiff befindet, ist es stets durch sein modernes Navigations- und Kommunikationssystem mit der Außenwelt verbunden.

 

 

Die Crew

 

"Come with us for the most exceptional, extraordinary experience in the Amazon" heißt es in den Unterlagen, und das tun wir sehr gerne.

Vertrauen uns der achtköpfigen Crew an, die da besteht aus Captain Milton, aus dem Mechaniker Francisco, den Matrosen André und Paquito, dem Roomboy Edison, der Köchin Vilma - und last not least den Guides Souza und Edivan. 

Die beiden arbeiten seit 17 Jahren zusammen und sind ein eingespieltes Team, das den Regenwald und den Rio Negro wie seine Westentasche kennt. Edi wurde in Manaus geboren und Souza "auf dem Land". Er ist Caboclo, also ein Mischling aus Indios und Europäern, seine Biografie die eines wissbegierigen Jugendlichen, dem es irgendwann mit einer List gelingt, seinem behüteten Zuhause zu entkommen, um in der großen Stadt Manaus sein Glück zu suchen und sich fortzubilden.

Viele Berufe übte Souza aus, ehe er anfing, als Guide zu arbeiten. Wenn er nach dem Dinner mit unglaublicher Gestik und Dramatik seine Geschichten aus dem Regenwald erzählt, von Curupira, dem Geist des Waldes oder von der verfressenen Anakonda, dann kann es passieren, dass ich zu einem kleinen Mädchen des Ticuna-Volkes werde, das am Feuer sitzt und atemlos den Erzählungen eines Onkels lauscht. Magie des Regenwaldes. 

 

 

Zwischen 8.30 und 9.00 Uhr kommen wir von unserer ersten Ausfahrt zurück, und uns erwartet ein "full breakfast": Kaffee, Tee, Säfte, Brot, Rührei, Schinken und Käse, immer wieder andere Maniok-Kuchen und jede Menge Obst. Manchmal finden wir auch Würstchen oder Tapioka-Pfannkuchen vor. Vilma weiß, wie man hungrige Forschungsreisende bei Laune hält.

 

Eine Flusskreuzfahrt ist eine beschauliche, entspannte Angelegenheit mit viel Zeit zum Relaxen? Nicht auf der Tucano! Da gibt es täglich volles Programm; ähnlich aber gleichzeitig immer wieder neu. Selbst einige Kajaks führt unser Schiff mit sich, um damit für noch mehr Abwechslung und sportliche Betätigung zu sorgen. 

 

Um 10.00 Uhr findet bereits die nächste Exkursion statt, zum Beispiel der Besuch eines Dorfes, einer verlassenen Kautschukzapfer-Siedlung oder auch ein "forest walk".

 

 

 

Mein erster forest walk

 

In der Broschüre, die wir alle zu Beginn der Reise erhalten haben, stehen ganz genaue Anweisungen, wie man sich auf einer Wanderung durch den Regenwald zu verhalten hat:

 

·     Leise wandern: nicht viel sprechen, dafür horchen.

·     Fokussiert sein: auf den Waldboden und die Baumwipfel schauen, mit den Augen nach Bewegungen       "scannen" und auf leise Geräusche hören.

·     Darauf achten, wohin man seine Hände tut. Man kann sich zwar an Stämmen und Ästen festhalten, sollte sich diese zuvor aber genau ansehen. Viele Pflanzen haben Dornen, oder auf den Stämmen klettern Ameisen herum.

·    Über liegende Baumstämme steigen und nicht darauf treten, denn oft sind sie rutschig.

·    Viel Wasser trinken und vor der Wanderung zusätzlich Bananen essen!

·    Wenn irgendetwas sein sollte: immer den Guide informieren!

·    Den Guide immer vorausgehen lassen, denn er hat mehr Erfahrung, um interessante Sachen zu entdecken. Und er kennt die Gefahren. Die häufigste Gefahr bilden die Wespen, nach deren versteckten Nestern der Guide ständig Ausschau hält. Wenn er "Wasps!" sagt, heißt es, sofort zurückzugehen und dabei den Pfad nicht zu verlassen. Dieser "verschwindet" nämlich oft, wenn man sich auch nur einen Meter von ihm wegbewegt. Selbst so erfahrene Waldläufer wie Souza haben sich schon mal verirrt und merkten irgendwann, dass sie im Kreis liefen.

Und dann ist da ja auch noch Curupira mit den roten Haaren, der kleine Beschützer von Wald und Tieren. Er verfolgt und bestraft alle, die die Natur nicht achten, und mit seinen verkehrt herum angewachsenen Füßen hat er schon oft falsche Spuren gelegt und beispielsweise Jäger und Wilderer in die Irre gelockt, die dem Wald mehr als nur das Lebensnotwendige entnehmen wollten oder Wild jagten, das gerade Jungtiere führte. Der Waldgeist kann Illusionen hervorrufen und Töne von sich geben, die sein Opfer zu Tode ängstigen und in den Wahnsinn treiben. Curupira ist auch oftmals daran schuld, wenn ein Mensch im Wald verschwindet und nie wieder auftaucht, und so halten wir uns auch an die nächste Anweisung:

·    Bei der Gruppe bleiben.

 

 

Angemessene Kleidung für einen Ausflug in den Regenwald ist selbstverständlich: feste Schuhe und eine lange Hose, deren Beine in die Socken gesteckt werden. Darüber kommen die sogenannten "snake protectors", Gummi-Gamaschen, die vor Schlangenbissen schützen sollen. Ein Hemd mit langen Ärmeln muss sein und eventuell Insektenschutzmittel auf den letzten freien Hautflächen. Dazu trägt jeder einen Rucksack oder eine Kameratasche, Kamera, Fernglas, eine Plastiktüte zum Schutz der Ausrüstung und vielleicht einen Poncho für den oft plötzlich einsetzenden Regen sowie mindestens eine Flasche Wasser.

So ausgerüstet fühle ich mich ziemlich sicher, schwitze aber vom ersten Augenblick an noch mehr als üblich. Den meisten meiner Gruppe geht es ebenso.

 

Souza zeigt uns seinen Wald. Er ritzt Bäume an, damit wir den austretenden weißen und süßlich schmeckenden Saft probieren können, er lässt uns bittere Blätter kosten, die die Indios und Caboclos gegen Malaria kauen, er weist uns auf einen Gürteltierbau hin, erklärt Bäume und Früchte.

Mit seiner Machete haut er uns wenn nötig den Weg frei und streicht damit an einem Baumstamm auf und ab. Das lockt riesige, schwarze Ameisen an, die bis dato unsichtbar in einem Nest am Fuße des Stammes saßen; einen gebührenden Abstand hatten wir glücklicherweise schon vorher einnehmen müssen. Im Laufe der Wanderung bekommen wir so einen ersten Eindruck vom Leben und Überleben im Regenwald.

Als ich ziemlich erschöpft bin und denke, ich kann nicht mehr weiter, erkenne ich in etwa drei Metern Entfernung zwischen dem Unterholz eine Wasserfläche und unser Beiboot. Gerettet! Und nachdem wir alle in das motorisierte Kanu geklettert sind, verteilt unser zweiter Begleiter zu unserer Überraschung und großen Freude eisgekühlte, nasse Gesichtstücher. Obrigado, Paquito!

 

Danke auch an die Crew, die nach jedem Landgang unsere Schuhe säubert, damit wir nicht etwa im Profil der Sohlen kleine Würmer und ähnliches Getier an Bord schleppen.

Dafür setzen wir nach Rückkehr auf das Schiff auch die letzten beiden Anweisungen sofort in die Tat um:

·    Kleidung wechseln und mit viel Seife duschen. Zusammen mit den anderen Vorsichtsmaßnahmen sollte das gegen die chiggers helfen, sehr unangenehme, beißende Milben. Zudem erfrischt das dunkle, lauwarme Wasser des Rio Negro, das aus dem Brausekopf kommt, nach einer anstrengenden Tour. Regenwalddusche im wahrsten Sinne des Wortes.

·    Kleidung trocknen. Dazu eignen sich die auf dem Top Deck gespannten Leinen hervorragend, und die im Fahrtwind flatternden Hemden und Hosen verleihen unserer Tucano einen verwegen-abenteuerlichen und lässigen Touch. 

 

 

 

 

 

 

12.30 Uhr: Lunch. Und wieder einmal muss ich die Kochkunst von Vilma bewundern. Diese kleine, bescheidene Frau zaubert nicht nur hervorragende Fleisch- und Fischgerichte in ihrer Kombüse, sondern sie hält auch stets Alternativen für die Vegetarier bereit. Selbst mit den Lebensmittelunverträglichkeiten einiger Gäste an Bord kommt sie klar und kocht spezielle Gerichte, ohne Gewürze oder lactosefrei.

 

13.00 – 15.30 Uhr: der heißeste Teil des Tages. Zeit, um auszuspannen. Und während das Schiff am Flussufer längs tuckert und unsere Guides in ihren Hängematten schlummern, können wir dasselbe in der Kabine tun. Oder auf dem Beobachtungs-Deck sitzen und mit einem Fernglas den langsam vorbeiziehenden Wald beobachten und die rosafarbenen Botos (Amazonasdelphine), die um das Schiff herumschwimmen. Wir können klönen, spielen, den Bücherschrank im Salon durchforsten oder einfach nur träumen. Wenn denn nicht der Crew einfällt, irgendwann an einer Sandbank anzuhalten, damit wir schwimmen gehen können.       

                   

15.30 Uhr: Während die Tucano vor Anker liegt, geht es per Boot zur Nachmittagsexkursion. Wir entdecken immer wieder neue Vogelarten und schippern durch die unterschiedlichsten, fantastischen Wasserlandschaften. Auch jetzt (es ist September und damit Trockenzeit) steht der Uferwald des Rio Negro teilweise noch meterhoch unter Wasser, und so paddeln und treiben wir mit dem Kanu zwischen exotischen Bäumen herum und halten an, um den Geräuschen des Waldes zu lauschen oder über uns in den Baumkronen turnende Kapuzineraffen zu beobachten.

Ich erlebe das Ganze wie im Lehrbuch beschrieben; Auszug aus meinem Reisetagebuch:

Stufe 1: Etwas plumpst ins Wasser; bestimmt eine Frucht, die ein Affe fallen gelassen hat

Stufe 2: Äste knacken

Stufe 3: Zweige bewegen sich

Stufe 4: wir sehen die Affen, die auf der Suche nach Nahrung mit ziemlicher Geschwindigkeit im Gewirr der Äste über uns herumhangeln.

 

 

Und nach unseren Touren vergisst der gewissenhafte Edivan nie, die von uns besuchten Orte auf einer großen Tafel zu notieren, dazu die Namen von sämtlichen gesehenen Pflanzen, Säugetieren und Vögeln.  

          

 

Der Rio Negro

 

Mit einer Länge von 2.253 Kilometern belegt der Rio Negro Rang 60 unter den längsten Flüssen der Erde, unter den wasserreichsten steht er jedoch auf Platz 6. Er entspringt im Bergland von Guayana und fließt dann, den Äquator querend, in südöstlicher Richtung durch Brasilien, um unterhalb von Manaus in den bis zu dieser Stelle Rio Solimões  genannten Amazonas zu münden. Diese Mündung, bekannt als Encontro das Aguas (Treffen der Wasser) ist spektakulär:

hier trifft das Schwarzwasser des Rio Negro auf das lehmgelbe Wasser des Amazonas. Beide Flüsse vermischen sich jedoch nicht sofort, sondern fließen gut sichtbar über  30 Kilometer nebeneinander her.

 

Der Rio Negro erscheint wegen seines hohen Gehaltes an verschiedenen Säuren, die vom Regen aus den schon ziemlich ausgelaugten Böden gewaschen werden, schwarz. Dieses Schwarzwasser ist zwar stark gefärbt, aber durchsichtig und nährstoffarm. Das bedeutet, dass es kaum Pflanzenwuchs im Wasser gibt und wir auf dem Rio Negro beispielsweise keine Schwimmpflanzen wie Wasserhyazinthen oder Wassersalat finden. Dafür gibt es hier aber auch kaum Mückenlarven und damit praktisch keine Malaria.

 

Encontro das Aguas

 

 

 

Piranhas

 

Igapó nennen die Brasilianer den immergrünen, tropischen Überschwemmungswald, der in den Auen entlang der Schwarzwasserflüsse Amazoniens (also auch am Rio Negro) anzutreffen ist. In manchen Gegenden können die Bäume bis zu 6 Monate in Jahr versunken sein; bei unserer Reise stehen sie etwa bis zur Hälfte unter Wasser. Und jedes Mal, wenn wir mit dem Kanu zwischen den Baumstämmen herummanövrieren, verfallen wir aufs Neue dem Zauber dieser fantastischen Pflanzenwelt.

 

Einen der Nachmittage nutzen wir, um im Igapó Piranhas zu angeln, diese kleinen Biester mit dem unglaublich scharfen Gebiss und dem schlechten Ruf. Eine einfache Bambusrute mit Schnur, Haken und einem Stück Fleisch dran genügen, und auch die Technik ist einfach: mit der Rute auf dem Wasser plätschern (was wohl ein ins Wasser gefallenes Tier nachahmen soll), dann den Köder tief im Wasser versenken und warten ...

 

"Die Gefährlichkeit der Piranhas für den Menschen ist sehr umstritten und keineswegs erwiesen, und zu den meisten Verletzungen mit den Raubfischen kommt es zumeist nicht im, sondern eher außerhalb des Wassers, wenn etwa versucht wird, einen gefangenen Piranha unsachgemäß vom Angelhaken zu lösen" ist bei Wikipedia zu lesen. Das scheint zu stimmen, denn unsere Begleiter bestehen darauf, dass nur sie selbst die gefangenen Tiere vom Haken abmachen. 

Wie kräftig und scharf das Gebiss der Fische ist zeigt Souza uns, indem er eins der Tiere quasi als Heckenschere benutzt. Da werden kleine Äste präzise, schnell und glatt durchgebissen, und wir können uns lebhaft vorstellen, was mit unseren Fingern samt Knochen passieren kann.

 

Trotzdem begnadigen wir einen der Gefangenen und unter Katrins Schlachtruf "Free Willy!" setzt Souza ihn wieder im Rio Negro aus.  

 

 

18.00 Uhr: Rückkehr zu unserem riverboat, wo auf dem Beobachtungsdeck die appetizer (Käse und Oliven, Popcorn oder Maniok-Chips, an einem Tag auch gebratene Piranhas) schon auf uns warten. Und wo zum Sonnenuntergang Bierdosen knackend und zischend geöffnet und geleert werden: Antarctica, Brahma, Skol und Itaipava.

 

19.00 Uhr: Dinner. Bei dem wir nach einem aufregenden und interessanten Tag jedes Mal die Schüsseln und Platten nahezu leeren und die Vorräte an Säften, Bier und Wein, die die Tucano mit sich führt, weiter dezimieren.

 

20.00 Uhr: Souza hat verschiedene unbekannte Früchte und Nüsse gesammelt, die er uns zeigt. Oder wir liegen auf dem Rücken an Deck, und Edi erklärt den südlichen Sternenhimmel. Oder die Beiboote werden noch einmal klar gemacht, und wir brechen zu einer Nachtpirsch auf. Wo uns wieder ganz andere Bewohner des Regenwaldes erwarten: Frösche, Schlangen und Kaimane.

 

Am letzten Abend unserer Tour mixen wir zum Abschied eine ganze Batterie von Caipirinhas, ein Gitarrenspieler kommt an Bord, es wird gesungen, getanzt und gelacht:

 

"Yo no soy marinero, yo no soy marinero, soy capitan, soy capitan ..."

 

 

 

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