London revisited

Ein Kurzbesuch in der britischen Hauptstadt

 

Schnee. In den 1990er Jahren lebten wir drei Jahre lang in Greater London, aber Schnee fiel meiner Erinnerung nach in dieser Zeit nur einmal und taute schon nach nur einem Tag wieder weg.

 

Auch hier Klimaveränderung; in London muss es dieses Jahr ziemlich heftig geschneit haben, und es herrschen schon seit über einer Woche Minusgrade, als wir Mitte Dezember die britische Hauptstadt besuchen.

 

Manche Dinge ändern sich jedoch nie, und so sehen wir bei Erreichen unseres Hotels in South Kensington auch zwei Partygirls, die wie die Mädels früher voll aufgebrezelt herumstehen und auf ihr Taxi zur nächsten Vorweihnachtsfeier warten: extrem kurzer Glitzerfummel, dünne Strumpfhose, hochhackige Sandalen. Schon vor fast 30 Jahren habe ich mich gefragt, wie die das aushalten.

 

Egal! Nach einem reichlich verspäteten Flug und einer endlos langen Taxifahrt im Stau lockt erst einmal unsere Bleibe für die nächsten Tage mit einem warmen Zimmer, mit einer großen Bar und leckerem bar food. Meine Arancini mit Wildpilzen und Parmesan sind ein Gedicht, und auch die Lamm Kebabs schmecken dem Vernehmen nach ausgezeichnet. Den Abschluss bilden zwei der kreativen Cocktails des Hauses: ein Espresso Martini (Wodka, Tonkabohne, Kaffeelikör, Espresso) und ein French Martini (Wodka, hausgemachter Beerenlikör, frisch gepresster Ananassaft, Absinth). Ein gelungener Start für unser Wiedersehen mit London nach 21 Jahren. 

 

 

Das klassische London mit seinen Must-sees von Buckingham Palace über St. Paul's bis Westminster Abbey, dazu ziemlich alle Museen, Einkaufsstraßen, Plätze und Parks kennen wir noch sehr gut, und so ist es hauptsächlich das London der letzten 20 Jahre, das uns reizt.

 

Viel hat sich in dieser Zeit getan, die Jahrtausendwende und die Olympischen Sommerspiele von 2012 haben nicht zuletzt in Form von spannenden, modernen Bauwerken ihre Spuren hinterlassen.

 

Im neuen Londoner Hochhauswald stehen jetzt einige unverwechselbare Gebäude, meist bekannt unter ihren Spitznamen:  The Gherkin (die Gurke), The Scalpel (das Skalpell), The Cheesegrater (die Käsereibe), The Shard (die Scherbe).

 

Um uns einen Überblick über das London von 2022 zu verschaffen, haben wir uns das "Walkie Talkie" und die darin befindliche begrünte Aussichtsterrasse, den "Sky Garden" ausgesucht. Der Eintritt ist frei und auf eine Stunde limitiert. Um 10.30 Uhr stehen wir mit Reisepass und unseren schon vor Tagen im Internet reservierten Tickets vor dem Gebäude und beglückwünschen uns zu dieser Idee, denn ohne längerfristige Reservierung hat man so gut wie keine Chance, in das Gebäude zu kommen.

Unsere Taschen werden durchleuchtet, und dann dürfen wir 35 Etagen mit einem Express-Fahrstuhl hochfahren; auf 150 Metern Höhe hält er an.

 

Wir landen in Londons höchstem rooftop garden, einem riesigen Gewächshaus mit Palmen, Farnen und Gräsern, mit mehreren Restaurants und einem fantastischen 360°-Blick über die Stadt.

Es ist kalt, aber die Sonne scheint, und London zeigt sich aus der Vogelperspektive wie eine Miniaturlandschaft, mittendrin St. Paul's, London Eye, Big Ben, Tower & Co. Ab und zu schiebt sich ein roter Doppeldeckerbus wie ein Spielzeugauto über eine der zahlreichen Brücken der Themse, die durch die Stadt mäandert. Die Stunde geht viel zu schnell vorbei mit Schauen, Staunen und Freuen, und so verzichten wir gerne auf die geplante Tasse Kaffee und machen uns auf den Rückweg. 

 

 

The Tube. Nach wie vor faszinierend sind die Übersichtlichkeit und die Funktionalität dieser ältesten Untergrundbahn der Welt. Noch immer führen an machen Haltestellen steile Stufen in den Untergrund, flankiert von Veranstaltungsplakaten, noch immer steht irgendwo ein Musiker mit seiner Geige und nutzt die gute Akustik der gekachelten Station aus, noch immer warnt eine Tonbandstimme an jeder Haltestelle: "Mind the gap!" Heute auch gerne: "Mind the gap between the train and the platform." Für die ganz Genauen.

 

 

Viele Verbesserungen wurden aber auch vorgenommen. Soweit wie möglich wurden barrierefreie Zugänge geschaffen, und die Tube setzt auf kontaktloses Passieren der Schranken. Schon im Jahr 2003 wurde die Oyster Card eingeführt, eine elektronische Fahrkarte. Mittlerweile gibt es verschiedene Systeme, aber man sollte sich sicherheitshalber registrieren und einen account anlegen.

Da uns dies für unseren kurzen Aufenthalt zu umständlich war, fahren wir wie in der guten, alten Zeit mit einer One Day Travelcard. Sechs Zonen für ₤14.40. Das Papierticket hat es aber in sich: der Magnetstreifen ist so schwach, dass er schon leidet, wenn er nur in die Nähe eines Smartphones kommt. Heißt: er funktioniert nicht mehr. Zum Glück steht an jedem Ein- und Ausgang der Underground ein meist schwarzer Mann und übernimmt freundlicherweise das Öffnen der Schranken. Manchmal kontrolliert er sogar dein Ticket.       

Später erst lesen wir, dass das Pay-as-you-go-System auch ohne Registrierung funktioniert. Und dass man sogar mit einer Kreditkarte hätte ein- und auschecken können. Preiswerter als unser Ticket wäre das allemal gewesen.

 

 

Da sitze ich also in der U-Bahn, die gemütlich und laut wie früher durch die kurvigen, engen Röhren rumpelt. Aber das Bild hat sich verändert: kaum einer der Pendler ist heute noch hier zu sehen, der selbstversunken ein Buch liest; die Unterhaltungsfunktion hat das Smartphone übernommen.

 

Ich schaue unter die Decke des Waggons, wo in bunten Linien die Streckenführung angezeigt wird – und stelle mit Freude fest, dass sich einige Sachen doch nicht geändert haben. Noch immer sind an einigen Stellen oberhalb dieser Grafiken Gedichte zu lesen. Sie haben mich schon damals gefesselt, inspiriert und mir lange Fahrten verkürzt. Mein erstes Fundstück im Dezember 2022:

 

 

Die "Poems on the Underground" gibt es schon seit 1986. Die Idee war das Experiment dreier Freunde, der Schriftstellerin Judith Chernaik und der Dichter Cicely Herbert und Gerard Benson. Sie überzeugten die Gesellschaft London Underground, ein paar Gedichte in ihren Bahnen auszuhängen, um damit die Pendler zu überraschen und zu erfreuen.

Seitdem unterstützt London Underground Ltd. das erfolgreiche Programm und präsentiert den über drei Millionen Reisenden, die täglich das Untergrundnetz benutzen, alte und neue, bekannte und unbekannte Gedichte.

 

Nach den ersten fünf Jahren erschienen 100 der Gedichte in Buchform, und der Band wurde in kürzester Zeit zum Bestseller. Auch die zweite Edition der "Poems on the Underground" ist schon lange ein Penguin-Klassiker. Wie ich gelesen habe, sind neuerdings an den U-Bahn-Stationen sogar kostenlose Faltblätter bzw. Broschüren mit Gedichten zu bestimmten Themen erhältlich, und die von Tom Davidson entworfenen Poster können im London Transport Museum erstanden werden. 

 

So ganz verdrängen konnten die Smartphones also doch nicht die Poesie, und die Idee mit den in Straßen- und U-Bahnen präsentierten Gedichten fand sogar weltweit Nachahmer. Von San Francisco bis Shanghai.

 

               

Wir steigen in die Piccadilly Line und fahren zur Station Knightsbridge. Hier steht Harrods, das bereits 1834 gegründete, größte Warenhaus Londons; bekannt als eines der exklusivsten der Welt.

 

Berühmt war Harrods "zu unserer Zeit" auch durch seinen Lichterglanz und die vorweihnachtlichen, bezaubernden Schaufensterdekorationen. Der Lichterglanz hält sich in Zeiten der Energiekrise dezent zurück, und die 75 Schaufenster, an denen sich früher nicht nur Kinder die Nasen plattdrückten, sind im Jahr 2022 (Thema: "The Fabulous World of Dior") einfach nur langweilig und enttäuschend und machen lediglich aufdringliche Werbung für den Luxusgüterhersteller.

 

Trotzdem darf nach wie vor jeder nicht gerade in Lumpen gekleidete Mensch das Kaufhaus betreten, gerne auch mit dem früher verbotenen Rucksack auf dem Rücken, und sich erst einmal von Gedränge und Düften erschlagen lassen. Im Parterre geht es los: ein riesiges Labyrinth ineinander verschachtelter Räume voller Beautyprodukte und Parfüm. Verirren der Kunden beabsichtigt?

Nur mit Mühe finden wir die berühmten Foodhalls, deren Jugendstilelemente in dem ganzen Lebensmittelangebot und den dazwischen gequetschten Essständen kaum mehr auszumachen sind. Früher haben wir hier gerne an einer der Theken gesessen und eine Kleinigkeit verspeist oder leichtsinnigerweise schon nachmittags ein Glas Champagner getrunken, heute stoßen uns das Gewusel und der Lärm einfach nur ab. Vielleicht sind wir einfach auch nur zu alt für dieses moderne Shoppingerlebnis.

In den erstaunlicherweise ziemlich ungemütlich wirkenden Cafés und Restaurants des Hauses ist es brechend voll, so dass wir beschließen, auf einen Snack zu verzichten und den Luxustempel zu verlassen – nicht jedoch, ohne eine Harrods-Dose mit Harrods-Keksen als Mitbringsel für liebe Freunde zu kaufen. Wat mutt, dat mutt.

 

Kurz darauf finden wir in der Brompton Road das kleine "Café de Nata", in dem es diese wunderbaren, portugiesischen Puddingtörtchen gibt, die wir in Lissabon kennen- und lieben gelernt haben.               

Und unter einem farbenfrohen Wandgemälde des portugiesischen Künstlers João Cardoso, auf dem historische britische und portugiesische Symbole abgebildet sind, stellen wir wieder einmal fest: lieber ein guter Kaffee aus einem Pappbecher als ein schlechter aus einem Designer-Tässchen.

 

 

Abends besuchen wir unser Lieblingsmusical "Les Misérables"; der eigentliche Grund unserer Stippvisite. Leider ist die Zeit auch an dem Musical nicht spurlos vorübergegangen. Zum fünften Mal sehe ich es nun und muss feststellen, dass die Inszenierung ausgerechnet an einer für mich sehr wichtigen Stelle geändert wurde.

 

Geblieben sind das schöne Theater, großartige Musik und gute Stimmen. Und es gibt Champagner aus Plastikbechern mit Stiel. 

 

 

Am nächsten Tag wollen wir die für uns neue Skyline der Stadt vom Wasser aus kennenlernen. Vorsorglich haben wir auch für die Tour mit einem der River Boats von "City Cruises" zwei Tickets (₤29,50) im Internet besorgt. Und wir sind nach Greenwich herausgefahren, um den befürchteten Warteschlangen in Westminster zu entkommen. So besteigen wir am Greenwich Pier direkt vor dem Old Royal Naval College das Boot. Wieder scheint die Sonne, es ist knackig kalt, und wir sind die einzigen Gäste an Bord. Vorbei an der Isle of Dogs und Canary Wharf geht die Tour mit interessanten Erklärungen aus dem Lautsprecher, und ich kann mich erst am Tower Bridge Quay von meinem Beobachtungsposten an Deck trennen, um mich dann unter Deck mit einem mulled wine aufzuwärmen.

 

Hier steigen auch andere Fahrgäste zu, die das "Manhattan an der Themse" sehen wollen. Noch Ende der 1980er Jahre war es verboten, höher als die Kuppel der St. Paul's Cathedral zu bauen. Aber die Stadt platzt schon lange aus allen Nähten; ist mittlerweile mit 9 Millionen Einwohnern größer als New York.  Im Jahr 2013 hatte Bürgermeister Boris Johnson getönt: "Überall werden Hochhäuser hochwachsen", und so kam es dann auch. Chinesen, Russen und Araber wälzen die Stadt um. Ohne Plan. Und es wird hoch gebaut. Nicht nur, weil die enormen Grundstückspreise dazu zwingen, sondern weil die asiatischen Bauherren es nicht anders gewohnt sind.   

Geplant waren 80% Wohnungen und 20% Büros, aber für die meisten Londoner sind die Wohnungen unbezahlbar. Und so wundert es denn auch nicht, dass Neubauwohnungen erst gar nicht in London, sondern nur in Asien vermarktet und 55% der Häuser von Ausländern erworben werden. Die Geister, die ich rief … 

 

Bei der Vorbeifahrt an altehrwürdigen Kaianlagen, am Tower of London und modernsten Hochhäusern zeigt sich leider, wie ungeplant das Ganze gebaut wurde. Der 2004 bezogene erste Wolkenkratzer, "The Gherkin", ist 180 Meter hoch und mittlerweile auch schon von anderen Hochhäusern zugebaut. Überall in den Himmel ragende Kräne erzählen davon, dass die Bauerei auch noch lange kein Ende hat.

Ich habe nichts gegen Hochhäuser, aber ich hatte mir das Zusammenspiel zwischen Alt und Neu in der Londoner Skyline viel harmonischer vorgestellt. Jetzt wirkt das Ganze auf mich nur, als habe ein Riese irgendwelche exotischen Spielzeughäuser wahllos in die Stadt geworfen.

Besonders deplatziert wirkt auf mich dabei "The Shard". Mit seinen 305 Metern ist die Scherbe das höchste Gebäude Westeuropas; weitere Hochhäuser sind geplant. Wenn dieser Boom so weitergeht, dann könnte London in der Tat leider "seine Seele verlieren", wie der "Spiegel" schon 2014 mutmaßte. 

 

 

Beim Aussteigen am Westminster Pier schräg gegenüber dem London Eye empfängt uns nach einer beschaulichen Tour der ganz normale Londoner Touri-Wahnsinn. Die altehrwürdige Westminster Bridge liegt in der Sonne und quillt schier über vor zumeist jungen Leuten, die unbedingt jetzt und hier mit Big Ben oder dem London Eye im Hintergrund ihre unzähligen Selfies machen müssen. 

 

Wir wollen stattdessen Fulham Palace besichtigen, fahren mit der District Line nach Fulham, Station Putney Bridge, und sind froh, der Hektik in der City entkommen zu sein.

 

Wir laufen längs der Themse, die hier langsamer zu fließen scheint, durch den Bishop's Park, stärken uns in dem gemütlichen "Tea House" mit einem flat white und einem hervorragenden Stück Kuchen, passieren das Torhaus und nähern uns dem imposanten Gebäude.

 

 

 

Dieses Herrenhaus aus dem Mittelalter war seit dem 11. Jahrhundert bis 1975 der Sitz des Bischofs von London. Es gehört immer noch der Kirche von England, wird aber u. a. vom Fulham Palace Trust verwaltet.

 

Das Anwesen beherbergt ein Museum über die Geschichte des Hauses, eine Kapelle und einen großen Botanischen Garten mit Gewächshäusern. Wir schlendern durch die verschiedenen Räume, die der Jahreszeit entsprechend mit geschmückten Weihnachtsbäumen ausgestattet sind, bewundern die Exponate in den Vitrinen und stellen wieder einmal fest, dass sich manche Sachen anscheinend nie ändern. Auch hier arbeiten einige ehrenamtliche ältere Ladies, die den Besucher mit einem strahlenden Lächeln begrüßen und auf charmanteste Art mit ihrem überreichen Wissen über das Gebäude und seine Geschichte füttern.

So lernen wir u.a., dass man bei Restaurierungsarbeiten auf dem Anwesen Beweise für römische und sogar für neusteinzeitliche Siedlungen entdeckte, dass der 1675 zum Bischof von London ordinierte Henry Compton etliche neue Pflanzenarten wie beispielsweise den Rhododendron in die Gärten von Fulham Palace einführte, und dass der Palast im Ersten Weltkrieg als Lazarett diente.

 

Nur mit Mühe können wir die Ladies bremsen, aber wir wollen uns noch in dem interessanten Garten umsehen. Im Ersten Weltkrieg wurde ein Teil des Grundstücks in Kleingärten umgewandelt, damit dort Gemüse und Obst zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen angebaut werden konnte. Die Kleingärten sind bis heute erhalten, und viele davon sind immer noch in Gebrauch, so dass Anwohner dort ihr Gemüse und Obst anbauen und ihre Blumen pflanzen können.

Als einen besonders friedlichen und erholsamen Ort empfinden wir den bereits 1650 angelegten "Walled Garden" mit seinen Gewächshäusern, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie schön es hier erst im Frühling und im Sommer sein muss, wenn der uralte Blauregen blüht und man seinen cream tea auf der Gartenterrasse vor dem kleinen Café einnehmen kann.

 

 

Am Tag vor unserem Rückflug macht London seinem Beinamen "City of Rain" alle Ehre. Aber wir lassen uns davon nicht abschrecken, ziehen Regenjacken an und leihen uns einen Hotelschirm aus. So ausgerüstet geht es nach Southall.

 

Der Stadtteil Southall ist schon lange bekannt für seine große indische Gemeinde. Die Einwanderung begann Mitte der 1950er Jahre, als Arbeitskräfte für die Automobilzulieferung gesucht und Sikhs aus dem Punjab rekrutiert wurden. Ende der 1960er Jahre nahm die Zuwanderung nach London dann noch einmal stark zu, und vor allem die als Gastarbeiter aus dem Punjab Gekommenen holten so weit wie irgend möglich ihre Angehörigen nach.

Durch die schlechte Anbindung an den ÖPNV war Southall gegenüber anderen Vierteln in West-London schon immer benachteiligt. Ich erinnere mich daran, dass ich in den 1990er Jahren keine Möglichkeit fand, den Stadtteil ohne ein umständliches und zeitraubendes Wechseln der Verkehrsmittel (U-Bahn, Regionalzug, Bus) zu erreichen.

Diese Situation hat sich grundlegend geändert, denn seit November 2022 verbindet die "Elizabeth Line" den Osten Londons mit dem Westen. Für diese hochmoderne Expressbahn wurden neue Tunnel gegraben und Haltestellen gebaut, aber sie fährt auch oberirdisch und benutzt teilweise schon vorhandene Underground-Haltestellen. Gesamtlänge der Strecke: 118 Kilometer mit 41 Stationen.

 

An der Station "Ealing Broadway" steigen wir von der District Line in die Elizabeth Line um - und erleben eine für Londoner Verhältnisse verkehrstechnische Revolution. Mit fast 100 km/h rauschen die Züge durch die Metropole. "Sicherer, sauberer und schneller war man in der britischen Hauptstadt noch nie unterwegs" schrieb die Süddeutsche.

In die Waggons passen bis zu 1500 Menschen – und man hat endlich Platz, mehr Kopffreiheit und breitere Sitze als in der Tube. Das ganze Design lässt die Fahrgäste gleich erkennen, dass es sich bei der Elizabeth Line um etwas Besonderes handelt. Das beginnt schon bei der Farbe, die sich auf den Schildern der Haltestellen, auf den Zügen und auf den Stoffsitzen wiederfindet: alles ist in royalem Purpur gehalten.

 

 

In Southall steigen wir aus – und sind sofort in Little India. Ein - wenn auch kalter - Monsunregen empfängt uns, und nicht nur die Schilder im Bahnhof sind zweisprachig. Englisch und Punjabi.  

Wir schlendern durch die Straßen und lassen die Umgebung auf uns wirken: einige verfallende Häuser und fette SUVs auf den Bürgersteigen davor. Sikhs in roten und blauen Turbanen prüfen ausgiebig das große Angebot an Gemüse und Obst, fast jeder zweite Laden bietet indische Billigklamotten aus Polyester an, dazwischen glänzen Schmuckgeschäfte, und in kleinen Boutiquen kann man hochwertige und sündhaft teure Hochzeitskleidung erstehen, meist salwar kameezes, dieses aus Tunika und weiter Hose bestehende Gewand, das sowohl Frauen als auch Männer tragen können.

 

"Best Restaurant in the Town" rühmt sich das indische Restaurant "Chandni Chowk" auf dem Broadway. Für ein Dinner ist es noch zu früh, aber wir wollen uns bei einem Kaffee oder Tee und einem der appetitlichen sweets aus der großen Vitrine aufwärmen. Ich mache es kurz: das auf der Speisekarte angebotene kulfi gab es leider nicht, aber das halwa war gut und nicht so süß wie befürchtet. Dafür schmeckte der chai masala nur nach Gewürznelken und war der schlechteste, den ich jemals getrunken habe.

 

In Anbetracht des schlechten Wetters verzichteten wir dann auf die weitere Erkundung des Stadtteils und fuhren zurück in die Innenstadt. Und dort, im "Light of India" in der Gloucester Road gab's dann abends ein hervorragendes vegetarisches Thali und frisch gezapftes Cobra-Bier. Und dafür bezahlten wir gerne schätzungsweise dreimal so viel wie für ein Essen in Southall. 

 

 

London ist das internationale Hauptquartier der Heilsarmee, und für mich gehörte die Salvation Army in ihren dunkelblauen Uniformen unbedingt zum vorweihnachtlichen Stadtbild. Immer höflich kamen sie mit ihren Sammelbüchsen in die Pubs oder standen in kleinen Grüppchen an gefühlt jeder zweiten Straßenecke, sangen fromme Lieder und sammelten Spenden für Bedürftige. 

Aber obwohl wir ziemlich viel zu Fuß unterwegs sind, sehen wir in diesen Dezembertagen keine einzige Uniform. Keine Ahnung, warum.

 

Als Ersatz für die entgangene Weihnachtsmusik wollen wir an unserem letzten Abend in London eigentlich in die St. Bartholomew Kirche. "The Great St. Barts" ist eines der ältesten Gotteshäuser der Stadt, wurde 1123 als Augustinerkloster gegründet und überstand sowohl das große Feuer von 1666 wie auch die beiden Weltkriege unbeschadet. In der Kirche, die auch als Filmkulisse ("Vier Hochzeiten und ein Todesfall" und "Shakespeare in Love") bekannt ist, soll um 17 Uhr "A Service of Nine Lessons and Carols" stattfinden.

Als wir dann jedoch hören, dass das Event live im Fernsehen übertragen wird, beschließen wir, auf den langen Weg durch Kälte und Regen zu verzichten und uns die Lesungen und Weihnachtslieder im TV anzuhören.

 

Und so sehen wir dann zwei bekannte Hessen, die im Hotelzimmer vor dem Bildschirm sitzen und einen anglikanischen Gottesdienst verfolgen, um daran anschließend in der Hotelbar einen exotisch-raffinierten farewell drink zu nehmen. Wobei ihnen spontan der Toast einfällt, den Elaine Benes 1996 in Seinfeld ausbrachte:

"Here's to those who wish us well, and those who don't can go to hell." Cheers!

  

 

© 2023


Wer jetzt Lust auf einen London-Besuch bekommen hat und vielleicht noch nie in der britischen Hauptstadt war, dem empfehle ich die Seite VISIT LONDONHier erfährt man nahezu alles, was man für einen Citytrip wissen muss.


Last not least: hier der Platz für Eure Kommentare. Lob, Kritik, Anregungen ...

Kommentare: 6
  • #6

    Astrid (Samstag, 28 Januar 2023 09:48)

    Liebe Beate,
    Danke für's Mitnehmen - mir ist's als ob ich selbst mitgereist wäre. Deine persönlichen Eindrücke gepaart mit sehr informativen Hintergrundwissen und anderen, nicht hochtouristischen, Locations machen Lust auf mehr. Ich setze London mal wieder auf meine Liste - den French Martini möchte ich unbedingt probieren! Liebe Grüße, Astrid

  • #5

    Blula (Mittwoch, 18 Januar 2023 09:56)

    Hallo Beate, wie ich lese, war das für Dich ein London-Wiedersehen nach 21 Jahren. Soll ich Dir mal sagen, wann i c h das ( übrigens ) erste und letzte Mal in der britischen Hauptstadt war ? Na? Das war vor sage und schreibe vor 52 Jahren, du meine Güte, also in einem ganz anderen Zeitalter. Ich hatte eine Woche im Hotel Grovenor Victoria gebucht. Den Namen vergesse ich nie. Da liefen damals die Aufzüge noch per Handbetrieb. Ich benutzte lieber die Treppe bis zu meinem Zimmer im 5. Stockwerk ;-)))
    Ja, Beate, Dein Bericht hat mir aber nun so einen richtigen Kick gegeben, mal wieder nach London zu reisen. Es hat mir Freude gemacht, Deinen lebendigen Schilderung zu folgen. Da war wieder alles drin und alles dran, so auch gute Tipps. Genauso muss ein Reisebericht sein. Danke !

  • #4

    Jutta Dotzler (Dienstag, 17 Januar 2023 11:14)

    Was soll man sagen: good memories an meinen Besuch bei euch "damals" kamen wieder auf. Vor allem der bezaubernde Abend im Musical "Les misérables". Danke für den tollen und interessanten Bericht. Cheers Jutta

  • #3

    Ildiko (Sonntag, 15 Januar 2023 09:51)

    Ich liebe es, einen Ort zum zweiten, dritten, vierten Mal zu besuchen - das erspart das Abklappern der touristischen Musts und fördert das zwanglose Umherstreifen und Genießen der Dinge, die sich spontan ergeben. Soo interessant eure Erlebnisse und spannend zu lesen, eben kein Reiseführer durch allseits Bekanntes. Das macht Lust auf London - auch wenn sich nicht alles positiv weiterentwickelt hat...

  • #2

    Anne (Sonntag, 15 Januar 2023 09:46)

    Schön, daß es in dem beschriebenen "Moloch" doch noch "Inseln" gibt, die erahnen, oder im Fall der Berichtenden, wissen lassen, wie es einstmals gewesen ist. Und damit meine ich nicht nur die Poesie. Denn auch die hat sich verändert, denn m. W. gab es Poetry Slams vor 30 Jahren noch nicht, als Beate und John near by London lebten. Wie immer hast Du, liebe Weltreisende, tolle und aussagekräftige Fotos gemacht, und Dein Bericht liest sich einfach wunderbar als auch sehr pointiert.
    Wo geht's denn als nächstes hin, wenn Du es schon verraten magst?!
    Eigentlich ist das Ziel aber egal, denn ich weiß schon jetzt, oder ganz bewußt formuliert "wie immer", daß das Resümee einfach wieder äußerst aufschlußreich als auch spannend sein wird. Don't stop travelling :-)

  • #1

    Hedi (Samstag, 14 Januar 2023 20:55)

    Leute!!
    Was kann man in so wenigen Tagen alles sehen/besuchen/erleben ( oder auch nicht)/ essen und trinken ...
    Ein toller Bericht ist das mal wieder. Oben im Sky Garden wäre ich auch gern gewesen, und die Poems in der Tube - was für eine geniale Idee.
    Und es schwingt ein bisschen Wehmut durch das, wovon du schreibst. Die Zeit steht nicht still, und längst nicht alles wird besser - wenn man mal von der guten Verbindung nach Southall absieht.
    Liebe Beate, mögest du noch häufig Gelegenheit haben, deine Freunde/Leser*innen auf deine spannenden Reisen mitzunehmen.
    Here's to you!
    Hedi