Ostkanada

Indianersommer oder Die Freuden der Nachsaison T.1

 

 

"Indian Summer", unter diesem Begriff versteht man in Nordamerika anders als bei uns nicht die herbstliche Laubfärbung, sondern eine trockene und warme Wetterperiode im späten Herbst. Die Zeit also, die wir in Deutschland so uncharmant als "Altweibersommer" bezeichnen.

Wir machten uns auf, ihn in Ostkanada im wahrsten Sinne des Wortes zu er-fahren und legten dabei in dreieinhalb Wochen per Auto und Eisenbahn über 5.500 Kilometer zurück.

 

Ende September / Anfang Oktober werden die meisten Einrichtungen geschlossen: in den Nationalparks sind Besucherzentrum und Serviceeinrichtungen zu, und es finden weder Führungen noch Beschäftigungsprogramme für Kinder statt. Viele preiswerte Familien-Motels, Campingplätze und Restaurants machen dicht, und sogar Museen und Aquarien beenden ihre Öffnungssaison. Selbst an einigen öffentlichen Toiletten hängt nun ein Schild "CLOSED" bzw. "FERME" oder "FERMÉE" – je nachdem, in welcher Provinz Ostkanadas man sich befindet.

 

Aber dafür ist der Eintritt in die Nationalparks jetzt kostenlos, in den Hotels kann man sich ohne Vorbuchung die schönsten Zimmer aussuchen, und beim Unterwegs-Sein mit vielen Senioren und einigen jungen Familien und Studenten geht es recht entspannt zu, sei es auf einer Fähre, bei Sehenswürdigkeiten oder im Restaurant.

 

 

1. Provinz Nova Scotia: Canada’s Ocean Playground

 

 

Halifax

 

Für die ersten beiden Übernachtungen haben wir ein Hotel vorgebucht; konnten gegen einen Aufpreis von 10 Euro sogar ein Zimmer mit Blick auf den Hafen bestellen. Aber welch eine Enttäuschung, als wir um elf Uhr abends ankommen und aus dem Fenster schauen: Halifax hat gar keinen Hafen! Es regnet in Strömen, und hinter alten Lagerhäusern erblicken wir dort, wo Wasser und Lichter sein sollten, nur eine dunkelgraue Nebelwand. Wir sehen es als ein Zeichen, das uns auf die folgenden Tage einstimmen soll: zum Herbst gehören auch in Kanada nicht nur sonnige und bunte Tage.

 

Unsere Einsicht und Geduld werden belohnt. Nach einem großartigen Frühstück am nächsten Morgen (Unmengen von Kaffee, Cornflakes mit Joghurt und Obst, vegetarisches Omelett mit Bratkartoffeln und Ketchup, Rye Toast mit Erdnussbutter und Blaubeermarmelade … Hurra! Amerika mich wieder!) lichtet sich der Nebel und irgendwann

sitzen wir bei 23 Grad Celsius auf einer Bank, ein Eis in der Hand und lassen die Seele baumeln …

 

 

Kejimkujik National Park

 

Nur etwa ein Fünftel des 380 km² großen Parks ist per Fahrzeug zugänglich, aber dafür bietet er eine ziemlich unberührte, bewaldete Seenlandschaft mit ruhigen Flüssen und Riedgrassümpfen, in denen sich Biber und Eistaucher wohl fühlen. Ein Paradies für Kanusportler und Angler.

 

Wir entscheiden uns für eine Kurzwanderung mit mittäglichem Picknick ab Jakes Landing und sind dankbar, dass die Wanderwege gepflegt und die Strecken ausgeschildert sind, denn ohne dies käme hier wohl nur ein Mi’kmaq durch.

 

Das zu den First Nations gehörende Volk der Mi’kmaq (Mic Mac) bewohnte einst die maritimen Provinzen Kanadas: Nova Scotia, Prince Edward Island, Teile von New Brunswick und die Gaspé-Halbinsel in Québec. Aus ihrer Sprache stammt auch der Name des Parks, der da "Kleine Feen" bedeutet. Den Mi‘kmaq und ihrem Schöpfergott, dem mächtigen Glooscap, sollen wir in den nächsten Wochen noch öfter begegnen.

 

 

Digby

 

Das Städtchen Digby mit seinen 2350 Einwohnern ist Heimathafen einer der größten Kammmuschel-Fangflotten der Welt; die scallops stehen hier in fast jedem Restaurant an erster Stelle der Speisekarte. Wir beschließen, zwei Tage hier Station zu machen, ehe wir per Fähre nach New Brunswick weiterfahren.

Für zwei Übernachtungen sollte es schon eine richtig nette Unterkunft mit Blick aufs Wasser sein, und so vertrauen wir uns dem örtlichen Visitor Centre an. Die nette Lady hinterm Tresen hat dann auch den passenden Tipp für uns, das "Come from Away B&B", zudem auch gleich den Besitzer desselben an der Strippe. Der meint zwar, er müsse jetzt für einige Stunden weg, aber wir sollten uns in der Zwischenzeit mal sein schönstes Zimmer ansehen, die Nummer 3. Er werde es offenlassen, und wenn es uns gefiele, sollten wir einfach einziehen. Typisch Kanada! Wir sehen das Zimmer, sind begeistert und bleiben.

 

Am übernächsten Morgen leichter Wind und Wolken, aber zum Glück kein Regen. Kurz nach sieben Uhr stehen wir in der Warteschlange für die Fähre, die um acht Uhr ablegen soll. Wir haben weder Reservierung noch Tickets, aber das ist Ende September auch nicht mehr nötig. Und so schippern wir kurze Zeit später über die Bay of Fundy nach Saint John in New Brunswick, neuen Abenteuern entgegen …

 


2. Provinz New Brunswick: Be…in this place · Être…ici on le peut

 

Drei Stunden sind wir mit der "Princess of Acadia" unterwegs, und es kommt ein ziemlich kräftiger Wind auf, der netterweise bald die Nebelwolken vertreibt.

 

Saint John mit seinen unübersehbaren Industrieanlagen reizt uns nicht, deshalb fahren wir nach Ankunft der Fähre gleich weiter Richtung Osten und durch den Fundy National Park, wo wir zu meinem Entzücken die ersten "richtig bunten" Blätter finden.

 

Eigentlich wollten wir hier am Rand des Parks im kleinen Fischerort Alma übernachten, aber auch die hiesige touristische Infrastruktur hat für dieses Jahr bereits geschlossen. So bewundern wir nur den kleinen Hafen und halten erst wieder in Hopewell Cape, um uns in einem Motel mit Blick auf die Bay einzuquartieren. Uns rufen die

 

 

Hopewell Rocks

 

Zweimal täglich veranstalten die Kräfte der Natur in der Bay of Fundy ein außergewöhnliches Schauspiel. Hauptdarsteller: der Pegelunterschied zwischen Ebbe und Flut, der bis zu 16 Metern beträgt und damit den höchsten Tidenhub der Welt darstellt. Schuld daran ist die trichterförmige Beschaffenheit der Bucht, in der sich die gigantischen Wassermassen stauen, die vom Atlantik in die Bay drücken. 

 

Oder war hier vielleicht auch Glooscap am Werk? Nach dem alten Glauben der Mi’kmaq war Glooscap riesengroß und besaß magische Kräfte. Er formte Landschaften wie beispielsweise das fruchtbare Annapolis Valley östlich von Digby. Auf einer Biberjagd schuf er mit einem Paddelschlag das Minas Basin am östlichen Ende der Bucht, und die Five Islands entstanden dadurch, dass er eine Handvoll Erde nach einem Biber warf.

 

Wie auch immer: eines der eindrucksvollsten Ergebnisse der Gezeiten in der Bay of Fundy sind die Hopewell- oder Flowerpot Rocks. Die in Jahrtausenden aus dem Fels gewaschenen Steinskulpturen sind mit Sträuchern und Bäumen bewachsen und erinnern in der Tat an Blumentöpfe. Bei Ebbe hat man die Möglichkeit, zwischen ihnen spazieren zu gehen, und wenn bei Flut nur noch ihre Spitzen wie kleine Inseln aus dem Wasser ragen, kann man sie per Kajak umrunden und teilweise sogar durchfahren.

 

Wir kommen bei Ebbe an und erfahren im Besucherzentrum, dass es heute keinen geführten Low Tide Walk mehr gibt, also erkunden wir auf eigene Faust den Meeresboden.

Auszug aus meinem Reisetagebuch: "Rotbrauner Schlick und rotbraunes Wasser; das hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt. Wahrscheinlich sind alle Fotos, auf denen blaues Wasser zu sehen ist, nachträglich bearbeitet. Der Satz 'Fotos lügen nicht' gilt schon lange nicht mehr!"

 

Ja, die Technik hat auch in den Nationalparks Einzug gehalten! Während der ausgesprochen lehrreichen High Tide-Wanderung am nächsten Tag zeigt uns Annie auf ihrem iPad wie es hier im Winter aussieht und wie ein Fels in die Bay abstürzt. "In echt" hätten wir das alles an einem Tag natürlich nie erleben können, und mit nur zwei weiteren Teilnehmern an der Führung gab es auch kein Gerangel um den besten Blick auf die Videos und die Fotos von den hier horstenden Adlern. Aber das Eichhörnchen war echt!

 

Ab jetzt hangeln wir uns immer weiter längs der Akadier-Küste nach Norden, wo wir kurz hinter Moncton einen Stopp einlegen, um uns auf einem ganz besonderen Holzsteg die Füße zu vertreten.

 

 

La Dune de Bouctouche

 

Die 12 Kilometer lange Sanddüne an der Bucht von Bouctouche wurde seit der letzten Eiszeit unablässig von Wind, Meeresströmungen und Gezeiten geformt und bietet ein Rückzugsgebiet für eine Vielzahl von Küsten- und Zugvögeln.

Außer einer einsamen Joggerin sind wir die einzigen auf dem zwei Kilometer langen Holzsteg, der das Gebiet erschließt. Wir genießen die Sonne und können das Leben in der Düne und den Salzmarschen studieren, ohne durch Herumlaufen dieses sensible Ökosystem zu gefährden.

 

 

Kouchibouguac National Park

 

"Fluss der langen Gezeiten" heißt der Park in der Sprache der Mi’kmaq. Der hier mündende Kouchibouguac River ist recht breit, von Sandbänken durchzogen und von Salzmarschen umgeben, und an der Küste finden wir sandige Strände, Lagunen und Dünen. Andere Habitate dieses abwechslungsreichen Parks sind der "Acadian Forest" genannte Mischwald aus Fichten und Laubbäumen wie Ahorn, Birke und Pappel, zudem Moore und Zedern-Sümpfe mit Moosen, Farnen und Orchideen.

 

Uns erscheint der Park mit seinen top gepflegten Anlagen und Wanderwegen irgendwie zu brav, aber jährlich besuchen ihn mehr als 230.000 Leute, um hier zu wandern, zu campen und zu schwimmen, um Vögel zu beobachten und Rad oder Kanu zu fahren.

 

Direkt am Eingang des Parks finden wir ein Motelzimmer im "Kouchibouguac Resort". Etwas müde sieht das Resort aus, erschöpft von einer langen Saison und noch nicht gerüstet für die Winteraktivitäten. Aber der Chef ist ausgesprochen nett zu seinen einzigen Gästen, und ehe er ins Wochenende aufbricht, um irgendwo seine Quads abzuholen und fit zu machen ("den Schlüssel lasst im Zimmer liegen, zieht einfach die Tür zu!") bekommen wir noch einige gute Tipps: wo wir am nächsten Morgen frühstücken können, an welchem der Wanderwege in der Nähe ein verwilderter Apfelbaum mit wunderbar schmeckenden Früchten steht, und wo "some moose activities" beobachtet wurden. Elche? Da müssen wir hin, lassen alles stehen und liegen und fahren auf die Suche nach den Schaufelträgern.

 

Eine der Legenden der Mi’kmaq erzählt davon, wie vor langer Zeit der weise Schöpfer Glooscap den damals gigantisch großen Elch schrumpfen ließ, um so Harmonie zwischen Tier und Mensch herzustellen. Leider bekommen wir keinen Elch zu Gesicht, und ich ertappe mich bei dem Gedanken, ob Glooscap vielleicht seine magischen Kräfte in diesem Park zu übereifrig eingesetzt haben könnte …  

 

 

Caraquet

 

Zentrum der frankophonen Kultur ist das Städtchen Caraquet, und einige Kilometer außerhalb liegt das historisch detailgetreu nachgebaute "Acadian Historical Village" mit seinen über vierzig Häusern. In diesem Museumsdorf bringen an die 100 "Einwohner" in historischer Tracht dem Besucher das Leben der Akadier zwischen 1780 und 1890 näher.

 

Am Nachmittag des 29. September kommen wir in Caraquet an, freuen uns darauf, am nächsten Tag in dem Living Museum mehr über die Akadier zu lernen - und müssen erfahren, dass heute der letzte Öffnungstag für dieses Jahr war. Dumm gelaufen.

 

Da zudem für den nächsten Tag ganz mieses Wetter vorhergesagt wird, machen wir das Beste aus der Situation und mieten uns gleich für zwei Nächte im ersten Haus am Platze ein, dem Hôtel Paulin.

 

Das aufwändig restaurierte Haus wurde 1891 im viktorianischen Stil erbaut und ist eines der ältesten familienbetriebenen Inns Akadiens. Seit 1972 wird es von Gérard Paulin und seinen Schwestern Gigi und Léola geführt. Vierte im Bunde ist Karen Mersereau, die Lebensgefährtin von Monsieur Paulin und Mutter des gemeinsamen Sohnes Jules Gérard. Die lebhafte Karen ist es dann auch, die uns die schönsten Zimmer des Hotels zeigt, unablässig plaudernd und uns Gaststätten-Tipps gebend. Das über die Stadt hinaus bekannte hauseigene Restaurant, in dem sie Chefin ist und eine regionale, leichte Küche anbietet, ist für diese Saison leider schon geschlossen.

 

Wir entscheiden uns für eine wunderbare Suite mit Blick auf die Chaleur Bay und genießen es, hier einen ganzen Tag lang abzuhängen mit lesen und schreiben, spielen und fernsehen. Andere Gäste gibt es nicht, und auch die Besitzer haben sich verabschiedet, um sich trotz des Wetters um ihre Apfelernte zu kümmern. Nur die gute, alte Léola ist uns geblieben, hat sich ans Klavier in der Lounge gesetzt und spielt ein paar entspannende, klassische Musikstücke. So, wie sie das schon seit 60 Jahren für Gäste tut, die ihr sympathisch sind. 

 

 

Und wieder einmal wird unsere Ausdauer belohnt: als wir uns nach zwei Übernachtungen verabschieden, um in die Provinz Québec aufzubrechen, lacht die Sonne vom Himmel.

 

 

 

 

 

 

 

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